Die Heiligen

21.12. Prophet Micha

Micha

Micha
Prophet
ca. 770-700 v.Chr.

Die Michaschrift ist Teil des Zwölfprophetenbuches und daher streng genommen kein eigenes Buch der Heiligen Schrift. In der Überschrift Micha 1,1 erhalten wir den einzigen Hinweis auf die Person des Propheten Micha:

Das Wort des Herrn, das an Micha, den Moreschetiter, erging in den Tagen Jotams, Ahas und Hiskijas, der Könige von Juda, das er schaute über Samaria und Jerusalem.

Micha ist einer der häufigsten Namen des Alten Testaments. Dementsprechend wird der Träger dieses Namens näher bestimmt. Es handelt sich hier um Micha aus Moreschet. Diesen Beinamen bekam der Prophet sicherlich erst, als er seinen Heimatort verlassen hatte, vielleicht während seines Auftretens in Jerusalem. Der sonst außerhalb des Micha-Buches nicht erwähnte Ort Moreschet lag wahrscheinlich südwestlich von Jerusalem. Möglicherweise stammt Micha aus der Bauernschaft dieses Ortes.
Seine Berufung zum Propheten erhielt Micha, als er vom wirkmächtigen Wort des Gottes Israel getroffen wurde. Das, was er sagt, hat er nicht aus sich selbst, sondern er verkündet das, was Gott seinem Volk, dem Nordreich um die Stadt Samaria und dem Südreich um die Stadt Jerusalem, sagen möchte.
Die Propheten Israels unterscheiden sich deutlich von denen der anderen Völker. Die dort geübten prophetische Praktiken, das Auftreten von Wahrsagern an den Königshöfen, Tierbeschauung, Astrologie und Geistesbeschwörung wurden in Israel massiv abgelehnt und bekämpft, was aber nicht verhindern konnte, dass sie immer wieder zutage traten. Auch in Israel kannte man Propheten am Königshof, die natürlich möglichst für den Herrscher günstige Visionen erzählen sollten. Wir werden diese im Folgenden öfter als Gegner Michas sehen.
Die wahren Propheten Israels aber sind die, die allein auf Gott hören und sich auf ihn verlassen und wirklich die Worte Gottes verkünden. Und diese sind eben oft gegen den König und die führenden Leute des Volkes gerichtet. Sie kritisieren deren ungerechtes Tun, das die Ordnung Gottes mit seinem Volk stört. Daher haben diese Propheten meist Verfolgungen zu erdulden, man denke nur an Elija und Jeremia. Als ein solcher, von Gott berufener Prophet versteht sich Micha. Er tritt als Mahner auf, aber er verheißt auch das Heil, denn die Drohungen Gottes bleiben nicht beim Untergang stehen, sondern eröffnen immer auch eine neue Zukunft, die Chance eines Neuanfangs auf dem Weg des Volkes mit seinem Gott.
Die Überschrift datiert das Wirken Michas auf die Zeit der Könige Jotam, Ahas und Hiskija, also auf die Zeit zwischen etwa 750 und 700 v.Chr., einen durchaus beträchtlichen Zeitraum, weshalb die genaue Abgrenzung seines Auftretens auch sehr umstritten ist. Man wird sicher sein können, dass das Buch in seiner heutigen Gestalt so nicht vom Propheten Micha geschrieben wurde. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass das Buch bis zu seiner Endkonzeption mehrmals überarbeitet wurde, wobei die ursprünglichen Worte des Propheten durch neue Deutungen und Erweiterungen ergänzt wurden. Der Prophet hatte wohl die Zerstörung Samarias im Jahre 722 v.Chr. und die anschließende Bedrohung des Reiches Juda vor Augen. Jedoch ist Jerusalem damals noch mit dem Schrecken davongekommen. Erst im Jahre 586 v.Chr. wurden Jerusalem und der Tempel zerstört und das Volk ins babylonische Exil geführt. Man kann davon ausgehen, dass aus dieser Erfahrung heraus die Worte Michas neu gedeutet wurden und diese neuen Gedanken mit in den jetzigen Michatext eingeflossen sind.
Der Inhalt der Verkündigung Michas wechselt zwischen Drohreden und Verheißungen. Vor allem gegen die beiden Hauptstädte Samaria und Jerusalem richtet sich der Zorn Gottes, gegen die Habsucht der Reichen, die dort leben und das gesetzlose Treiben der Mächtigen, gegen die falschen Propheten, die den Mächtigen nach dem Mund reden und die Bestechlichkeit der Führer. Eine zunehmend dekadent werdende Oberschicht lässt es sich auf Kosten der Armen gut gehen und führt durch Vernachlässigung ihrer Pflichten den Untergang des Staatswesens herbei. Doch Gott wird das Heil wirken, denn er ist der Herr seines Volkes und wird nicht zulassen, dass sein Volk zu Grunde geht.

Nach der Überschrift folgt ein Aufruf zum Hören an alle Völker:

Hört ihr Völker alle, merke auf, Erde und was sie erfüllt! (Mi 1,2)

Ähnliche Mahnungen, auf die Worte des Propheten und somit auf Gott zu hören, finden wir immer wieder in den Prophetenschriften. Aus einer Zeit stammend, in der nur wenige Menschen Lesen und Schreiben konnten, sind die Bücher des Alten Testamentes konzipiert als Hörbücher vorgelesen werden. Dieser erste Höraufruf des Propheten Micha richtet sich an alle Völker. Auch wenn die Völker als Adressaten im folgenden Abschnitt zurücktreten, da sich die Worte zunächst an Samaria und dann an Juda und Jerusalem richten, werden wir sehen, dass das Verhältnis Israels zu den anderen Völkern ein wichtiges Thema des Propheten ist. Mit Mi 1,2 wird ein weiter Bogen gespannt bis nach Mi 5,14 wo es dann heißen wird: „Und ich übe in Zorn und Wut Vergeltung an den Völkern, die nicht gehört haben.“
Die Verse Mi 1,3 und 4 schildern eine Theophanie, eine Gotteserscheinung, wie sie im Alten Testament häufig geschieht, so beispielsweise bei anderen Propheten oder in den Psalmen. Gott erscheint, er tritt auf die Höhen, so dass die Berge wie Wachs schmelzen und die Täler sich spalten. Vers 5 benennt den Grund für diese furchtbare Gotteserscheinung: wegen der Vergehen Jakobs und der Sünden des Hauses Israel. Was genau diese Sünden sind, werden wir dann in den Kapiteln 2 und 3 genau erfahren. In den Versen 6 und 7 kommt Samaria in den Blick und zwar zum letzten Mal bei Micha und im gesamten Zwölfprophetenbuch. Samaria wird wegen seiner Vergehen total zerstört, es fällt heraus aus der Erwählung durch Gott. Allein Juda bleibt übrig als das auserwählte Volk Gottes. Auch wenn Samaria wieder aufgebaut wird, es bleibt eine Stadt, die nicht mehr zum Volk Gottes gehört. Die Abneigung der Juden gegen die Samariter ist ein bekanntes Thema in den Schriften Neuen Testamentes.
Mögen sich die Bewohner Jerusalems bei diesen Worten noch in Sicherheit wiegen, so folgt in den folgenden Versen eine ungeheuerliche Aussage: nicht nur Samaria wird von Gott bestraft, nein das Unheil kommt sogar bis an das Tor Jerusalems heran (Mi 1,8-16). Wir müssen uns vorstellen, dass Jerusalem mit dem Tempel Gottes für den gläubigen Juden damals wie heute das Größte überhaupt ist. Jerusalem mit dem Tempel als Wohnung Gottes galt als uneinnehmbar, weil Gott, Herr über die ganze Welt, sich diesen Ort erwählt hat und keiner mächtiger ist als dieser Gott. Und da wagt es Micha zu sagen: Gott kann auch über diesen von ihm erwählten Ort Unheil kommen lassen, wenn seine Bewohner durch ihr ungerechtes und sündhaftes Verhalten diesen Ort entweihen.
Es bleibt aber zugleich die Heilszusage bestehen. Jerusalem wird niemals vollkommen verworfen werden, wie Samaria. Auch wenn Gott jetzt das Unheil über Jerusalem zulässt, so wird er es doch wiedererstehen lassen, wenn das Volk umkehrt. Interessant ist, dass Micha im Folgenden, wenn er verächtlich von dem Volk spricht, nur die ungerechte und korrupte Führungsschicht anspricht. Demgegenüber gelten die, die unter dieser Ungerechtigkeit zu leiden haben, weiterhin als Volk Gottes benennt, Israel wird also nie als Ganzes verworfen.
In den Verse Mi 1,10-16 nennt der Prophet insgesamt zwölf Städte, stellvertretend für das Zwölf-Stämme-Volk Israel, die alle in der weiteren Umgebung Jerusalems liegen. Sie alle werden mit etwas Negativem verbunden. Gat und Adullam spielen auf Tiefpunkte der Königsgeschichte an (2Sam 1, 1Sam 22), Bet-Leafra (= Staubhausen) soll sich im Staub wälzen, Schafir (= Schönau) geht in hässlicher Entblößung, um nur einige Beispiele zu nennen. Ganz besonders wird Lachisch kritisiert, denn dieses war eine bedeutende Festungsstadt und gerade durch die maßlose Rüstungspolitik für Micha ein Zeichen unheilvoller, gottloser Zustände. Das Zentrum dieses Abschnittes bildet Mi 1,12: „Denn Unheil ist herabgefahren vom Herrn“. Der Grund für dieses Unheil sind, wie wir bereits gesehen haben, die Sünden der Bewohner des Landes. Daher kann man sagen, dass das Volk selbst für die unheilvollen Zustände in den Städten selbst ist, wegen des ungerechten Verhaltens vor allem der Führungsschicht. Und wie massiv ungerecht diese Zustände gewesen sein müssen, wird durch die drastischen Worte des Propheten in den nächsten beiden Kapiteln deutlich.

Das Kapitel 2 beginnt mit einer Totenklage, Ach! Wehe! Bezeichnenderweise wird aber nicht über leiblich Tote geklagt, sondern über lebende, die wie tot sind vor Gott wegen ihrer Schlechtigkeit. Die Verse 2,1-7 beinhalten einen Prophetenspruch, der eine sogenannte Spiegelstrafe ankündigt. Zunächst wird das ungerechte Verhalten geschildert. Die bösen Menschen sind Tag und Nacht mit dem Bösen beschäftigt, planen es in der Nacht und führen es dann am Tage aus. Sie haben es also nicht einmal nötig, wie gewöhnliche Diebe ihren Raub im Schutz der Nacht zu verüben, sondern können „ganz legal“ am helllichten Tag den einfachen Menschen um sein Haus und seinen Erbbesitz bringen.
Hierzu ist zu sagen, dass der Erbbesitz in der agrarischen Gesellschaft Israels noch einen ganz anderen Stellenwert hatte, als man es sich in unserer Industriegesellschaft heute vorstellen kann (vielleicht kann man den Erbbesitz heute mit dem Arbeitsplatz vergleichen, denn bei uns ist ja die gesellschaftliche Stellung eines Menschen in hohem Maße – wenn freilich auch nicht nur – abhängig von seiner Arbeit; hier kann jeder für sich weiterdenken, ob man für die heutige Zeit die Parallele ziehen kann zu ungerechten Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt, wenn bei vielen – oft leider auch notwendigen – Einsparmaßnahmen nur das Geld im Mittelpunkt steht, und an die betroffenen Menschen nicht mehr gedacht wird). Wer seinen Grund und Boden verlor, verlor zugleich seinen Status als freier Bürger. Dem Raub folgt die totale Erniedrigung der Geschädigten. Dieses Tun ist umso frevelhafter, da es sich letztendlich gegen Gott richtet, denn er ist es, der jedem Israeliten seinen Erbbesitz zuweist und garantiert. Wer den Erbbesitz eines Menschen ungerechtfertigt wegnimmt, wird somit nicht nur an diesem Menschen schuldig, sondern versündigt sich zugleich auch schwer gegen Gott.
So fällt dann auch die Strafe für diese Menschen aus: das schon so oft benannte Unheil kommt über sie und besteht darin, dass es einen erneuten Besitzerwechsel gibt. Wie dieser stattfindet, wird hier nicht näher geschildert, ob direkt, oder erst nach einer fremden Eroberung und späterer Rückgabe des Landes an das Volk nach dem Exil, auf jeden Fall aber zugunsten der vorher Geschädigten, denn die ungerechten Landräuber werden dann klagen, dass für sie kein Stück Land mehr abgemessen wird. Das ist die Spiegelstrafe: auf ungerechten Landraub folgt die Wegnahme des geraubten Landes.
Die Bösen haben aber noch anderes im Sinn. Sie geben sich nicht damit zufrieden, den Erbbesitz zu rauben, sondern nehmen den Menschen auch noch das letzte, das sie haben, sie rauben den Mantel, ziehen dem Armen sozusagen das letzte Hemd aus. In Kapitel 3 geht der Prophet dann sogar soweit zu sagen, dass sie den Menschen auch noch die Haut abziehen bis auf die Knochen. Wie kann man drastischer schildern, dass durch diese Ausbeutung dem Menschen seine letzte Würde genommen wird. Der Mensch an sich kommt gar nicht mehr in den Blick, die Ausbeuter sehen nur noch das, was sie an sich reißen können. Sie sehen keinen Menschen mehr auf sich zukommen, sie sehen nur einen Mantel daher gehen als Objekt ihrer Begierde, um ihn an sich zu reißen. Der Mensch darunter ist ihnen vollkommen egal. Besonders deutlich wird die Sünde, die sich dadurch auch gegen Gott richtet, wenn man bedenkt, dass es im Gesetz des Mose verboten ist, einem Armen seinen Mantel über Nacht zu pfänden, weil dies das einzige ist, womit er sich zudecken und in der Nacht vor Kälte schützen kann. Neben dem Raub des von Gott garantierten Erbbesitzes nehmen sie auch noch den Mantel, der ebenso von Gott selbst dem Allerärmsten zugesichert wird.
Wurden bisher vor allem die Männer als Opfer genannt, so kommen in Mi 2,9 besonders Frauen und Kinder in den Blick. Somit wird deutlich, dass sich die Unterdrückung gegen die gesamte Bevölkerung richtet. „Weg mit euch! Ihr habt hier keine Ruhestätte.“ So werden Frauen und Kinder aus dem geraubten Haus getrieben. Wir werden später sehen, dass in der Verheißung des Propheten explizit gesagt wird, dass nach der Wiederherstellung des Landes jeder in Ruhe wohnen kann. Ein kleines Fünkchen dieser Hoffnung kommt schon in den Versen 12 und 13 zum Ausdruck, wo von einer Sammlung der so Vertriebenen die Rede ist.

In Micha 2,6.7 und 12 kommt die Auseinandersetzung des Propheten mit den Hofpropheten, die auf Seiten der Unterdrücker stehen, klar zum Vorschein. Das Durcheinander von verschiedenen Prophetenreden und dazu ein teilweise nicht eindeutiger hebräischer Urtext machen diesen Abschnitt denn auch im Detail teilweise schwer verständlich. Die Hofpropheten werfen Micha vor, dass er zu Unrecht den Verlust des Landes für die Enteigner verkündigt, denn schließlich ist Gott doch langmütig und gütig und hat das Land auf ewig verheißen. Micha setzt dagegen, dass diejenigen, die sich in der extremen Weise wie oben geschildert gegen die Bevölkerung und gegen Gott versündigen, aufhören, zum Volk Gottes zu gehören, was auch durch den in Vers 8 in ironischer Weise gebrauchten Begriff „mein Volk“ deutlich wird. Mögen die Hofpropheten auch weiterhin die ungerechte Oberschicht als Volk Gottes bezeichnen, für Micha sind diese Menschen aus dem Volk Gottes herausgefallen. Die Erwählung Gottes beschränkt sich auf den Rest derer, die Opfer dieser Ungerechtigkeiten wurden. Es scheint, dass die Hofpropheten sogar soweit mit den Unterdrückern unter einer Decke stecken, dass sie die Ausgebeuteten als unrein titulieren und damit das ungerechte Tun noch zusätzlich sanktionieren. Besonders deutlich kommt der Spott Michas über diese Hofpropheten in Vers 11 zum Ausdruck. Sollen sie doch gleich ohne Umschweife der ungerechten Oberschicht verkünden: Wein und Bier, Überfluss und Luxus für euch!
In den Versen 12 und 13 kommt dann eine kleine Verheißung zum Ausdruck. Sie steht einsam in den ersten 3 Kapiteln des Michatextes, aber sie verweist schon voraus auf die Fülle der Verheißungen, die dann in den Kapiteln 4 und 5 verkündet werden. Auch wenn jetzt von allen Seiten Unheil hereinzubrechen droht, so ist bei Gott doch schon das Heil geplant.

Kapitel 3 setzt die Anklagen fort. Zunächst kommt die Führungsschicht des Volkes in den Blick. Normalerweise sollten sie für Recht und Ordnung sorgen, aber sie kennen nur Unrecht und Böses. Dies wird in einem drastischen Bild geschildert. Sie sollten eigentlich die Herde des Volkes als gute Hirten weiden, stattdessen fressen sie sich satt am Fleisch der Herde. Dementsprechend wird auch ihre Strafe sein. Gott, auf den sie trotz allem ihre Hoffnung zu setzen wagen und in dessen Namen sie vielleicht sogar all das Böse verüben, er wird sein Angesicht vor ihnen verbergen, wodurch dann alle Bosheit auf sie zurückfällt.
In den Micha 3,5-8 kommen erneut die Hofpropheten in den Blick. Wie die Oberschicht werden auch sie als verfressen dargestellt. Wer ihnen zu beißen gibt, bekommt ein Heilswort, alle anderen werden verflucht. Micha spricht diesen Propheten nicht ab, dass sie auch Visionen haben, aber sie missbrauchen diese zu ihrem eigenen Nutzen. Deshalb wird ihnen ihre prophetische Gabe genommen, so dass sie zuschanden werden. Micha aber ist ein getreuer Verkünder des Wortes Gottes und wird somit von Gott als Prophet beglaubigt.

In Micha 3,9-12 kommen erneut die schlechte Oberschicht und der König in den Blick. Er ist es, der Jerusalem mit Blut und Unrecht erbaut. Man wird sich darunter ungerechte und grausame Zwangsarbeit vorstellen müssen, die wohl die leisten müssen, denen vorher alles genommen wurde. Aus einem Volk freier Bürger sind letztlich Fronknechte des Königs und seiner Großen geworden. Die Führungsschicht, Priester und Propheten haben sich versündigt, wagen es aber dennoch, sich als Auserwählte Gottes hinzustellen, denen kein Unheil geschehen kann. Daher geschieht das Unerhörte, das, was eigentlich nie geschehen dürfte: Jerusalem und der Tempel Gottes werden zerstört.

Deshalb: Um euretwillen wird Zion als Feld gepflügt und Jerusalem wird zu Steinhaufen und der Tempelberg zu Waldeshöhen. (Mi 3,12)

Micha 3,12 stellt den Mittelpunkt des Zwölfprophetenbuches dar und ist sicherlich als der Kernsatz des Propheten zu verstehen. Und doch wird die Zerstörung Jerusalems bei weitem nicht so drastisch geschildert, wie diejenige von Samaria in Mi 1,6. Der Prophet will auch gar nicht bei dieser Zerstörung stehen bleiben. Das folgende Kapitel setzt sofort schlagartig damit ein, wie es weitergehen wird und wie Gott in seiner Güte geplant hat, Jerusalem und den Tempel neu erstehen zu lassen, noch größer und leuchtender als vorher. Nun erfüllt sich die Verheißung an Abraham, dass alle Völker in seinem Namen Segen erlangen werden. Gott wirkt von seinem Tempel aus an allen Völkern. Mag der Tempel des Herrn jetzt bedroht sein von den Feinden, ja sogar von ihnen zerstört werden, so ist dies nicht das Ende.
Es werden Tage kommen, da wird das Haus Gottes auf Erden wieder feststehen auf einem Berg, erhaben in der Höhe. Er wird nicht nur ein Gottesberg sein, wie es vielleicht noch viele geben mag (auch heidnische Heiligtümer wurden gerne auf Bergen errichtet), sondern nun wird sich zeigen, dass Gott über alle anderen Götter erhaben ist. Man muss sich hierbei vor Augen halten, dass das damalige Israel durchaus anerkennen konnte, dass andere Völker andere Götter verehren, für Israel selbst durfte es aber nur den einen Gott geben. Und es wird sich nun zeigen, dass dieser Gott größer ist als alle Götzen der anderen Völker. Alle Nationen sind darauf aus, hinzuziehen zu diesem Gott Israels. Gott wird aber seine Größe nicht durch militärische Erfolge demonstrieren, sondern durch seine Weisung, seine Gebote, die so gerecht und gut sind, wie sie nirgendwo anderes zu finden sind. Deshalb wenden sich die Völker an den Gott Israels, weil nur durch das Befolgen seiner Gebote Frieden herrschen kann. Und dieser Friede ist es, wonach die Völker sich sehnen, dass jeder auf seinem Besitz leben kann und ausreichend versorgt ist durch dessen Ertrag, dass die Menschen sich nicht mehr fürchten müssen vor den raffgierigen Umtrieben der ungerechten Oberschicht und vor dem Einfall fremder Mächte. Nur durch das Hören auf die Weisung Gottes kann ein solcher Friede gewährt werden und bestand haben.

Und sie werden ihre Schwerter umschmieden zu Pflugscharen und ihre Lanzen zu Winzermessern. (Mi 4,3)

Dieser Vers aus Micha 4,3 gehört wohl zu den bekanntesten des ganzen Buches und hat seine Wirkungsgeschichte auch außerhalb des religiösen Bereiches entfaltet. Wie könnte man deutlicher die Sehnsucht nach Frieden zum Ausdruck bringen, die in den kriegerischen Zeiten des Propheten als Hoffnung keimt?
In Micha 4,6 und 7 kommt die Sammlung des auserwählten Restes in den Blick, die Rettung der Hinkenden und Versprengten. Wurde in den Kapiteln 1-3 aufgezeigt, welches Unheil über Israel kommt wegen seines Fehlverhaltens, so wird eine Zeit kommen, in der Gott dieses Unheil wieder hinwegnehmen wird. Und dann leitet der Text über zu dem Thema, das im Folgenden ausführlich behandelt wird, nämlich die Wiederherstellung eines gerechten Königtums in Jerusalem.
Jetzt aber bricht erst einmal das Unheil über Israel herein. Die Völker versammeln sich, Israel muss ins Exil. Der König wird gedemütigt und auf die Wange geschlagen. Aber die Völker begreifen nicht den Plan Gottes. Sie sind gekommen, um Israel zu vernichten, Gott aber möchte sein Volk nicht vernichten, sondern nur läutern. Deshalb wird Israel am Ende doch über die Völker triumphieren, weil es Gott auf seiner Seite hat. Und an die Stelle des unwürdigen und gefangenen Königs wird Gott einen neuen Herrscher bestimmen, der Israel gerecht regieren wird und dessen Königtum, weil er Gottes Weisung beachtet, auch Bestand haben wird.

Micha
Du aber, Betlehem-Efrata, so klein unter den Gauen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll. Sein Ursprung liegt in ferner Vorzeit, in längst vergangenen Tagen. Darum gibt der Herr sie preis, bis die Gebärende einen Sohn geboren hat. Dann wird der Rest seiner Brüder heimkehren zu den Söhnen Israels. Er wird auftreten und ihr Hirt sein in der Kraft des Herrn, im hohen Namen Jahwes, seines Gottes. Sie werden in Sicherheit leben; denn nun reicht seine Macht bis an die Grenzen der Erde. Und er wird der Friede sein. (Mi 5,1-4a)

Einen neuen Herrscher sagt der Prophet Micha voraus. Zuvor hat er die Bedrängnis geschildert, in die Israel geraten ist und auch in diesen Versen klingt es an: Gott scheint Israel preiszugeben, seinem Schicksal zu überlassen. Doch es ist wie bei einer Gebärenden: Sie schreit und windet sich in ihren Wehen, doch die Freude über die Geburt lässt dann den Schmerz vergessen. Diese Wendung zeigt sich am Text, der mit "du aber ..." zu einer Verheißung anhebt und einen Friedensherrscher ankündigt.
Traditionsgemäß stammt der dem Volk Israel verheißene Herrscher aus dem Haus David. Auch wenn König David in diesem Text nicht erwähnt wird, so denkt doch jeder bibelkundige Leser bei der Erwähnung von Betlehem-Efrata sofort an David: "David war der Sohn eines efratitischen Mannes, der aus Betlehem in Juda war." (1Sam 17,12)
Wenn von "klein" die Rede ist, dann ist ebenso die Davidgeschichte präsent, wie etwa die Erzählung von David und Goliath oder dass Samuel gerade den jüngsten der Söhne Isais zum König salbte. Der neue Herrscher wird ganz nach Gottes Willen sein, was in dem Ausdruck "aus dir wird MIR einer hervorgehen" deutlich wird. Hier spricht Gott selbst, der stets in die Geschichte eingreift, indem er Menschen erwählt, die bereit sind, seinen Willen zu tun.
Vieles aus der Geschichte versteht man erst hinterher und was zunächst wie eine vernichtende Katastrophe aussieht, kann sich doch zum Guten kehren. So weckt der Prophet die Hoffnung, dass die schmerzhafte Verbannung in das Exil nach Babylon, das den Hintergrund des Textes bildet, zu einer umso herrlicheren Wiederkehr in das gelobte Land führen wird.

Frieden

Der Prophet Micha und diejenigen, die seine Worte aufgeschrieben und ergänzt haben, hätten sich wohl nie denken können, dass sich diese Worte einmal in der Geburt des Gottessohnes im Stall von Betlehem erfüllen werden. Auch wenn aus alttestamentlicher Sicht hier zunächst einmal an einen Friedensherrscher aus dem Geschlecht Davids gedacht werden muss, so zeigt doch die Geschichte Israels, dass keiner seiner Könige in der Lage war, diese hohen Ideale zu erfüllen. Allein Gottes Sohn konnte ein wahrer Repräsentant dieses Königtums sein, und Friede kann nur dann sein, wenn Gott herrscht über alles und in allem.
Damals wie heute ist Israel ein bedrohtes Land. Immer ist es von Feinden umgeben, die sich seiner bemächtigen wollen, und ist mit seiner außergewöhnlichen religiösen Tradition so etwas wie ein Fremdkörper im Nahen Osten. Diese Situation prägt das Volk und es wünscht sich nichts sehnlicher als den Frieden. Endlich einmal ohne ständige Bedrohung in Ruhe und Sicherheit leben zu können, das wünschten sich die Juden damals sicher ebenso wie heute.
Endlich Frieden. Das ist auch unser Wunsch. Warum schaffen die Völker es nicht, in Frieden miteinander zu leben? Warum schaffen es die Regierenden oft nicht, auf diesen Frieden hinzuwirken? Doch wie sollen die Völker in Frieden zusammenleben, wenn wir als einzelne Menschen das schon nicht schaffen. Soviel Streit in den Familien, in der Nachbarschaft, zwischen einzelnen Gruppen ... Weihnachten, das Fest des Friedens. Beten wir in diesen Tagen vor Weihnachten besonders darum, dass es friedlicher wird auf unserer Erde - und erwarten wir diesen Frieden nicht nur von anderswo her, sondern fangen wir selbst damit an, Friedensbringer zu sein.

Die Kapitel 6 und 7 bestehen nochmals aus einem Wechsel zwischen Drohreden und Verheißungen. Auf diese Kapitel möchte ich hier nun nicht weiter eingehen.