Jahreskreis C

26. Sonntag

Erste Lesung

Am 6,1a.4-7

Weh den Sorglosen auf dem Zion und den Selbstsicheren auf dem Berg von Samaria. Ihr liegt auf Betten aus Elfenbein und faulenzt auf euren Polstern. Zum Essen holt ihr euch Lämmer aus der Herde und Mastkälber aus dem Stall. Ihr grölt zum Klang der Harfe, ihr wollt Lieder erfinden wie David. Ihr trinkt den Wein aus großen Humpen, ihr salbt euch mit dem feinsten Öl und sorgt euch nicht über den Untergang Josefs. Darum müssen sie jetzt in die Verbannung, allen Verbannten voran. Das Fest der Faulenzer ist nun vorbei.

Zweite Lesung

1Tim 6,11-16

Du aber, ein Mann Gottes, flieh vor all dem. Strebe unermüdlich nach Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glauben, Liebe, Standhaftigkeit und Sanftmut. Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen worden bist und für das du vor vielen Zeugen das gute Bekenntnis abgelegt hast.
Ich gebiete dir bei Gott, von dem alles Leben kommt, und bei Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis abgelegt hat und als Zeuge dafür eingetreten ist: Erfülle deinen Auftrag rein und ohne Tadel, bis zum Erscheinen Jesu Christi, unseres Herrn, das zur vorherbestimmten Zeit herbeiführen wird der selige und einzige Herrscher, der König der Könige und Herr der Herren, der allein die Unsterblichkeit besitzt, der in unzugänglichem Licht wohnt, den kein Mensch gesehen hat noch je zu sehen vermag: Ihm gebührt Ehre und ewige Macht. Amen.

Evangelium

Lk 16,19-31

Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag herrlich und in Freuden lebte. Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war. Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren.
Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben. In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß.
Da rief er: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir, und schick Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer.
Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden. Außerdem ist zwischen uns und euch ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund, so dass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann, selbst wenn er wollte.
Da sagte der Reiche: Dann bitte ich dich, Vater, schick ihn in das Haus meines Vaters! Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen.
Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören.
Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren.
Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.
Heilige Schrift

Das Gleichnis vom reichen Prasser und dem armen Lazarus

Die Mahnung des Propheten Amos

Weh den Sorglosen auf dem Zion und den Selbstsicheren auf dem Berg von Samaria. Ihr liegt auf Betten aus Elfenbein und faulenzt auf euren Polstern. Zum Essen holt ihr euch Lämmer aus der Herde und Mastkälber aus dem Stall. (Am 6,1.4)

Trinken und Schmausen, dass sich die Tische biegen. Anschaulich schildert der Prophet Amos hier das Treiben der Oberschicht von Samaria und gibt uns damit zugleich eine Vorlage für das heutige Evangelium. Dabei geht es nicht um eine Kritik des fröhlichen Feierns an sich. Das wollen weder Jesus noch der Prophet verbieten, vergleicht doch Jesus selbst oft das Reich Gottes mit einem Festmahl.
Der Prophet Amos und Jesus im Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus, beide kritisieren die Ungerechtigkeit, die daraus resultiert, dass Menschen nur für sich Reichtümer anhäufen und nicht bereit sind, mit anderen zu teilen. Genau an diesem Punkt sind wir in unserer Gesellschaft auch heute wieder angekommen, und daher sind diese Worte, obwohl sie aus ferner Zeit stammen (der Prophet Amos lebte etwa vor 2750 Jahren), heute genau so aktuell wie damals.

Nicht jede Armut ist heilig, und nicht jeder Reichtum verbrecherisch. Luxus und Verschwendung aber machen den Reichtum verwerflich, ebenso wie Heiligkeit die Armut adelt. (Johannes Chrysostomus)

Es geht hier um die Gier, für sich möglichst viel herauszuholen, ohne Rücksicht auf andere. Das totale Streben nach absolutem Profit ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit und Folgeschäden. Wir erleben das heute wieder katastrophal in unserem allein auf Wachstum ausgelegten Wirtschaftssystem. Die Zahlen müssen stimmen, egal, ob dabei anderen Menschen, den entlassenen Arbeitnehmern hier oder den Armen in fernen Ländern, ihre Existenzgrundlage geraubt wird. Menschen werden von ihrem Land vertrieben, müssen unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und verdienen nicht einmal das zum Leben notwendige.
In diesen Kreislauf der Ungerechtigkeit sind wir alle verstrickt. Unsere Kleidung, unsere Nahrung, unsere technischen Geräte, es gibt kaum etwas, das ohne soziale Ungerechtigkeit produziert wird. Denken wir daran, dass unsere von der Werbung angetriebene Schnäppchenjagd und der Wunsch, immer mehr immer billiger zu kaufen nur zu Lasten anderer Menschen gehen kann?
Bei uns heute sind es nicht die Tische, die sich unter den feinen Speisen biegen, die Symbol für unseren Reichtum sind. Vielleicht kennen sie den modernen Begriff des ökologischen Fußabdrucks, der anzeigt, wie stark wir die Erde zertrampeln und anderen den Platz zum Leben rauben.
Wenn auch der arme Lazarus heute nicht mehr sichtbar vor unserer Türe liegt, so gibt es ihn doch, in Afrika, Asien oder sonst wo. Wir alle sind der Reiche im Evangelium. Da hilft es nicht viel, wenn wir nur das eine oder andere Produkt bio oder fair kaufen oder einige Euro spenden. Als Christen müssen wir anfangen, uns radikal gegen das sich immer stärker etablierende System globaler Ausbeutung zu stellen. Der Prophet Amos und Jesus stellen uns klar vor Augen was geschieht, wenn wir hier unserer Verantwortung nicht gerecht werden.

In Abrahams Schoß

Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag herrlich und in Freuden lebte. Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war. Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. (Lk 16,19-21)

Da liegt ein armer Bettler vor der Tür eines reichen Mannes, zur Zeit Jesu und auch zu anderen Zeiten ein vertrautes Bild. Normalerweise kann ein Bettler darauf hoffen, von dem, was im Haushalt eines Reichen übrig bleibt, etwas abzubekommen und davon satt zu werden. Doch der reiche Prasser im Evangelium gewährt dem armen Schlucker nicht einmal diese kleine Gunst. Im Evangelium hat der Arme sogar einen Namen - Lazarus. Der Reiche bleibt namenlos und das sicher nicht ohne Grund. Gregor der Große sagt dazu:

Bemerke wohl, dass die Leute gewöhnlich viel eher die Namen der Reichen wissen als die der Armen. Der Herr aber nennt den Namen des Armen - und den des Reichen nicht. Denn Gott kennt und anerkennt die Niedrigen, und die Stolzen kennt er nicht.
Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben. In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß. (Lk 16,22-23)

Lazarus stirbt und ebenso der reiche Mann. Lazarus wird in Abrahams Schoß getragen, der Reiche jedoch leidet Qualen in der Unterwelt. Wir wollen nicht darüber nachdenken, ob Jenseitsvorstellungen wie diese der Wirklichkeit entsprechen oder nicht. Ich wehre mich auch gegen eine Deutung, die nur auf eine Vertröstung auf das Jenseits ausgerichtet ist. Sicher will uns Jesus mit diesem Gleichnis nicht sagen, dass wir uns um die Armen keine Sorgen machen müssten, weil sie ja für ihr Elend auf Erden im Himmel umso mehr mit Glück beschenkt werden.
Die kritische Person im Evangelium ist der reiche Prasser. Er hat keinen Namen und wird so zu einer Mahnung an uns alle, dass wir nicht werden wie er! Aus den Worten des Evangeliums entnehmen wir deutlich, dass er seine Chance auf ein gelungenes Leben vertan hat. Seinen ganzen Luxus kann er nicht mit ins Grab nehmen. Hätte er nur ein klein wenig mehr auf seine Mitmenschen geachtet, würde es ihm jetzt nicht so schlimm ergehen. Ich denke, Jesus will uns darauf hinweisen, dass wir unser Leben bewusst leben und unsere Augen und Herzen offen halten sollen, um im entscheidenden Moment richtig - das heißt barmherzig - zu handeln.
Lazarus wird nach seinem Tod direkt in Abrahams Schoß getragen. Die Juden verbanden damit die Vorstellung von einem Ort der größten Sicherheit und Geborgenheit, von einem Ort des höchsten Glücks. Dies darf nun der genießen, der in seinem Leben nichts Gutes erfahren hat.
Abrahams Schoß, Geborgenheit und Glück, erwarten uns in Fülle im Jenseits. Doch auch schon hier auf Erden wollen wir etwas davon zu spüren bekommen. Wie kann uns das gelingen? "Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit." Das ist der Titel eines Buches von P. Willi Lambert SJ. Wir können den Schoß Abrahams in dieser Umarmung Gottes sehen, die er uns jeden Tag immer wieder neu anbietet.

Heilige Schrift

Umarmung

Umarmung ist ein Zeichen von Nähe und Zärtlichkeit. Für Kinder ist diese Nähe lebenswichtig, Menschen, die sich lieben, schenken sie einander, doch denken wir bei dem Wort Umarmung auch an Gott? Kann Gott uns liebevoll umarmen, uns seine Nähe schenken, oder haben wir das Bild von einem Gott, der zu abstrakt, zu fern oder gar zu streng ist, um uns zu umarmen?
Durch das Alte Testament und ganz besonders auch durch Jesus ist uns das Bild von Gott als dem Guten Hirten vertraut. Der gute Hirte trägt das verlorene Schaf auf seinem Arm - was ist das anderes als eine liebevolle Umarmung?
Im bekannten Gleichnis umarmt der Vater den verlorenen Sohn, als dieser wieder nach Hause zurückkehrt. Jesus selbst umarmt die Kinder, die zu ihm kommen. Mehr noch, es gibt auch das Bild, dass Jesus vom Kreuz aus die ganze Welt umarmt.
Doch wie kann diese Umarmung Gottes geschehen? Bernhard von Clairvaux hatte tatsächlich das mystische Erlebnis, dass er beim Gebet vor dem Kreuz vom gekreuzigten Christus umarmt wurde. Doch ist so eine Vision hilfreich für uns im Alltag?
Gott will uns in unserem Alltag begegnen. Das gelingt dann, wenn wir versuchen, in allem, was uns widerfährt, in den Ereignissen des Lebens und in den Menschen, die uns begegnen, Gott zu entdecken. Gott finden in allen Dingen, in allem Schönen, aber auch im Elend.
Gott will mit uns in Kontakt kommen. Dies gelingt, wenn wir ihn einlassen in unser Leben, in unseren Alltag. Wenn wir alles im Lichte Gottes sehen, alles mit Gott erleben, unser Leben ihm anvertrauen, ihm für alles danken.
Das klingt nun doch wieder so, als müssten wir aktiv werden. Aber letztlich ist es Gott selbst, der sich uns schenkt, der alles macht, wenn wir es nur zulassen und ihm Raum geben in unserem Leben, damit er wirken kann mit seiner Liebe.

P. Alfred Delp SJ schreibt aus dem Gefängnis in Berlin-Plötzensee:

Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Dies gilt für alles Schöne und auch für das Elend.
In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort. Die Kunst und der Auftrag ist nur dieser, aus diesen Einsichten und Gnaden dauerndes Bewusstsein und dauernde Haltung zu machen, bzw. werden zu lassen. Dann wird das Leben frei in der Freiheit, die wir gesucht haben.

Wenn wir diese Gegenwart Gottes in unserem Leben spüren, können wir nicht mehr gleichgültig in den Tag hinein leben. Wir werden die Zeichen der Zeit verstehen und entsprechend handeln. Gottes Umarmung ist nicht etwas, das wir zurückgezogen in einer religiösen Kuschelecke genießen können. Sie drängt uns hinaus zu den Menschen.
Die Geschichte liefert uns viele Beispiele, wie diese Erfahrung von Gottes Gegenwart die Menschen gedrängt hat, diese weiterzugeben - ganz konkret. Da ist der heilige Martin, der mit dem Bettler seinen Mantel teilt, da ist Franziskus, der den Aussätzigen umarmt - er überwindet den Ekel, der ihn von diesem entstellten Menschen zurückschrecken lässt, er wagt die Begegnung, die Nähe, die Umarmung, und findet so zu einem neuen Leben.
Das ist ja gerade das Erstaunliche, dass dann, wenn wir diesen Schritt der Barmherzigkeit tun, unser eigenes Leben frei und glücklich wird. Im Hinblick auf das Evangelium können wir sagen, dass wir so den Abgrund überwinden, der uns von Abrahams Schoß trennt. Trauen wir uns, diesen Schritt zu tun, so lange noch Zeit dafür ist. Gott hilft uns dabei.

Der Hilferuf

Da rief er: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir und schick Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer. Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden Außerdem ist zwischen uns und euch ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund, sodass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann, selbst wenn er wollte.
Da sagte der Reiche: Dann bitte ich dich, Vater, schick ihn in das Haus meines Vaters! Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen. Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören. Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren. Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht. (Lk 16,24-31)

Wir haben gesehen, wie sehr sich Gott danach sehnt, uns zu begegnen, uns in seine Arme zu schließen. Wie aber geht es mit dem reichen Mann weiter? Wird auch er Gnade erfahren? Wir sehen zumindest, dass er sich nicht an dem Ort absoluter Gottferne befindet, als den wir die Hölle theologisch bezeichnen. Auch er kann Kontakt mit Abraham aufnehmen, wenn auch über einen tiefen, unüberwindlichen Abgrund hinweg. Gibt es die Hoffnung, dass auch er nicht endgültig verloren ist? Oder bleibt der Abgrund auf ewig unüberwindbar?

Nun wirst du vielleicht sagen: Gibt es denn niemanden, der hier und drüben Schonung erfährt? Das ist sehr schwer, es gehört schier zu den unmöglichen Dingen. Wenn die Armut nicht drückt, dann drückt der Ehrgeiz, wenn nicht Krankheit ein Stachel im Fleisch ist, dann flammt leicht der Zorn auf, wenn nicht Prüfungen anstürmen, dann kommen unrechte Gedanken hoch. Es ist keine geringe Mühe, den Zorn zu zügeln, unerlaubtes Begehren zu meistern, Eitelkeit und Prahlsucht zu dämpfen, Verzweiflung hinter sich zu werfen, ein asketisches Leben zu führen. Wenn man aber nichts davon tut, kann man nicht gerettet werden.
(Johannes Chrysostomus)

Wie gerne würde der Reiche die Zeit zurückdrehen, eine Sekunde vor seinem Tod noch alles bereuen. Aber es ist zu spät. Nicht zu spät ist es für seine Brüder. Kann Abraham sie nicht warnen? Aber es gibt genug Warnungen, die Bücher der Propheten sind voll davon. Da müsste schon einer von den Toten auferstehen, meint er. Doch Jesus ist auferstanden und wer hat daran geglaubt? Es ist schwer, die Richtung zu ändern, umzukehren, wenn man es aus eigener Sicht erst einmal auf die Überholspur des Lebens geschafft hat. Man möchte immer weiter rasen, an den anderen vorbei, das Leben in atemberaubender Geschwindigkeit genießen. Doch wohin führt die schnelle Fahrt? Bleibt dabei nicht das auf der Strecke, was Leben ausmacht? Nicht umsonst finden gerade die zur Tiefe des Lebens, die auch einmal innehalten und schweigen können und staunend vor den Wundern stehen, mit denen Gott uns jeden Tag beschenkt.

Heilige Schrift

Gerechtigkeit (1Tim)

Du aber, ein Mann Gottes, flieh vor alldem! Strebe vielmehr nach Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glauben, Liebe, Standhaftigkeit und Sanftmut! Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen worden bist und für das du vor vielen Zeugen das gute Bekenntnis abgelegt hast! (1Tim 6,11-12)

Der erste Timotheusbrief schließt mit der persönlichen Aufforderung zu den Tugenden. Dies erinnert mich an die Seligpreisungen. Ich möchte hier besonders das Thema der Gerechtigkeit näher ausführen. Jesus sagt dazu:

Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. (Mt 5,6)

Das Streben nach Gerechtigkeit wird somit zu einer existenzbestimmenden Notwendigkeit wie Hunger und Durst. Ohne Gerechtigkeit kann der Mensch ebenso wenig leben wie ohne Nahrung und Wasser. Was aber bedeutet Gerechtigkeit?
Die Gerechtigkeit wird als erste der erstrebenswerten Tugenden genannt. Das entspricht dem klassischen Denken der Antike, für das die Gerechtigkeit als höchste der Tugenden galt. Ein römischer Jurist definiert Gerechtigkeit als den "festen und dauernden Willen, jedem sein Recht zuzuteilen". Diese Definition galt durch das Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit. So bedeutet beispielsweise auch für den großen Theologen Thomas von Aquin die Tugend der Gerechtigkeit die dauernde Willensbereitschaft, jedem das Seine zu lassen und zu geben.
Was aber ist dieses Recht, das jedem zukommen soll? Im antiken Denken besaß nur ein freier männlicher Bürger die vollen Rechte, Frauen hatten deutlich weniger Rechte als Männer, Unfreie und Sklaven hatten so gut wie keine Rechte. Erst unsere moderne Gesellschaft kennt so etwas wie universale Menschenrechte, die für alle Menschen in gleicher Weise gelten. Doch auch heute noch gibt es an vielen Orten der Welt gravierende Unterschiede in den Rechten, die Menschen haben. In vielen Ländern der Welt haben Frauen immer noch viel weniger Rechte als Männer und es gibt Volksgruppen, die rechtlich benachteiligt sind. Doch auch dort, wo die Rechte der Menschen auf dem Papier gleich sind, haben viele arme und benachteiligte Menschen nicht die Möglichkeit, gegen reiche und einflussreiche Menschen ihre Rechte durchzusetzen.
Heute denken wir anders als in der Antike bei dem Wort Gerechtigkeit vor allem an soziale Gerechtigkeit. Alle Menschen sollen gleichermaßen Zugang zu Bildung und Wohlstand haben. Diese Vorstellung von Gerechtigkeit erweist sich jedoch als Utopie. So erstrebenswert eine gerechte Verteilung des Wohlstands auch wäre, erweist sie sich in der Realität als praktisch undurchführbar. Soziale Ungleichheit scheint irgendwie zum Wesen menschlicher Gesellschaften zu gehören, denn alle Ansätze, hier wirkliche Gleichheit zu schaffen, sind bisher gescheitert. So haben sich in kommunistischen Ländern schnell neue Eliten gebildet, die im Gegensatz zum armen Volk einen immensen Reichtum hatten. Auch in der Kirche, in der in der Euphorie des Anfangs alle ihr Hab und Gut miteinander geteilt haben und keiner etwas sein Eigen nannte (vgl. Apg 4,32), prägten schon bald die Unterschiede zwischen Arm und Reich und zwischen Menschen, die Macht haben und solchen, die gehorchen mussten, den Alltag.
Aber dennoch ist es nicht vergeblich, an Gerechtigkeit zu glauben und für sie einzutreten. Gerechtigkeit lebt von dem Einsatz vieler Menschen vor Ort, die nicht wegschauen, wo Unrecht geschieht, die nicht um ihr eigenes Recht kämpfen, sondern für das Recht anderer, die in Not sind. Der Staat hat für das Recht zu sorgen, Gerechtigkeit aber beginnt im Kleinen, immer da, wo Menschen aufeinander treffen. Wir können das Wesen der Gerechtigkeit ergründen, wenn wir immer mehr versuchen, mit dem Blick Gottes auf die Welt zu blicken, wenn wir immer wieder darüber nachdenken, wie Jesus den Menschen begegnet ist, wie er seine Jünger gelehrt hat, miteinander zu leben. "Liebt einander" ist Jesu oberstes Gebot über dem kein anderes steht.
Gerechtigkeit ist verbunden mit Liebe und kommt wie diese aus dem Herzen. Gerechtigkeit kann nur leben, wer ein reines Herz hat. Um gerecht sein zu können, müssen wir alles Böse von unserem Herzen fern halten. So können wir zunächst in unserer unmittelbaren Umgebung für ein Klima der Gerechtigkeit eintreten und wenn es unsere Berufung ist auch in einem weiteren Umfeld.
Wenn wir auf die antike Definition von Gerechtigkeit zurückblicken, können wir sagen, dass das eigene, das jedem Menschen gehört, sein Menschsein ist. Jeder Mensch ist etwas Besonderes und hat seine ganz eigenen Fähigkeiten, der eine vielleicht mehr als der andere, aber wirklich kein einziger Mensch ist ohne eine ganz besondere Eigenschaft, die ihn auszeichnet. Gerechtigkeit bedeutet somit, jedem Mensch die Möglichkeit zu geben, seine Fähigkeiten zu entdecken und diese zu fördern. Das bedarf in erster Linie der Freiheit, der Freiheit des Menschen vor der Manipulation anderer, die ihn nur zu ihrem eigenen Zweck benutzen wollen. Für die Gerechtigkeit eintreten heißt, Lehren und Propaganda, die Menschen zu Objekten der Interessen anderer missbraucht, aufzudecken und gegen diese vorzugehen. Es heißt, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen geschützt sind und in Freiheit leben können. Es heißt, über keinen Menschen zu urteilen und zu erkennen, welche Fähigkeiten in jedem einzelnen Menschen stecken.

Mein Herr und mein Gott,
lass mich die Welt sehen mit dem Blick deiner Gerechtigkeit, der ein Blick der Liebe ist.
Heile mein Herz von Hass, Eigensucht und dem Streben, über andere Macht zu haben.
Nicht mein Bild will ich anderen aufdrücken, sondern jeden Menschen so sehen, wie er ist.
Ich will erkennen, dass jeder Mensch seine ganz besonderen Fähigkeiten hat, denn obwohl es Millionen Menschen auf der Erde gibt, ist doch jeder Mensch etwas ganz Besonderes.
Vielleicht bedeutet Gerechtigkeit, dass jeder Mensch die Möglichkeit bekommt, gemäß der Fähigkeiten zu leben, die du in ihm grundgelegt hast.
Berufe Menschen, die andere fördern und sie vor der Macht derer bewahren, die sie nur zu ihrem eigenen Vorteil benutzen wollen.
Lass deine Gerechtigkeit blühen in der Welt und in jedem Menschen, damit die Menschen nicht einander unterdrücken und bekämpfen, sondern dass die Welt hell und bunt bleibt von der Vielfalt, die du uns Menschen geschenkt hast.
Amen.